Tagungsbeitrag

Schädler-Saub, Ursula:

Das Schicksal von St. Godehard nach dem Zweiten Weltkrieg, zwischen Wertschätzung und Ablehnung seiner historistischen Ausmalung und Ausstattung

Unter den großen mittelalterlichen Kirchenbauten in Hildesheim überstand nur die Godehardikirche den Zweiten Weltkrieg ohne gravierende Schäden. Aber die zum Großteil erhaltene Ausmalung und Ausstattung des Kirchenraums im Stil des Historismus entfachte in den 1950er Jahren eine heftige Diskussion: Sollte man sie als Geschmacksverirrung verurteilen und entfernen, oder als historisches Zeugnis anerkennen und erhalten? Die damalige Einstellung gegenüber der Kunst des Historismus war auch seitens der Fachleute zumeist negativ. Der Denkmalpfleger Oskar Karpa setzte sich dem Zeitgeist entgegen, er wollte „Werte der Vergangenheit für die Zukunft bewahren“ und sprach sich mit großer Weitsicht für die Erhaltung des Gesamtkunstwerkes aus, einschließlich seiner historistischen Interpretation. Dabei wurde er von der Klosterkammer Hannover und von kunsthistorischen Instituten unterstützt, die sich für eine sorgfältige Restaurierung der Wandmalerei von Michael Welter und seinen Schülern aussprachen.
Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis war jedoch groß: Einige historistische Ausstattungsteile fielen einer zeitgenössischen Gestaltung zum Opfer. Jüngere Untersuchungen belegen zudem, dass die Wandgemälde im östlichen Teil des Kirchenraums zum Großteil übermalt wurden. Besonders gravierende Verluste entstanden in den Jahren 1961-65: Bauliche Schäden am Langhaus führten damals zu drastischen statischen Maßnahmen, bei denen die Wände des Mittelschiffs niedergelegt und mit einem Stahlbetonskelett wiederaufgebaut wurden. Aus Kostengründen verzichtete man auf eine Abnahme und Wiederanbringung der nach Entwürfen Michael Welters von Schülern und Gehilfen ausgeführten Malereien an den Hochschiffwänden, sie wurden aufgegeben. Dieser Verlust kam dem Zeitgeschmack der beteiligten Fachleute und der Kirchengemeinde teilweise entgegen.
Heute ist der Kirchenraum von St. Godehard auch ein beredtes materielles Zeugnis dieser denkmalpflegerischen und gesellschaftlichen Debatte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. So kontrovers man die damaligen Maßnahmen beurteilen kann, sollten wir doch feststellen, dass eine weitere „Zeitschicht“ hinzugekommen ist, die für uns heute Teil der Geschichte von St. Godehard ist. Der Umgang mit historistisch ausgestalteten mittelalterlichen Kirchenräumen von der Nachkriegszeit bis heute soll exemplarisch an diesem Beispiel untersucht werden.

Prof. Dr. Dipl.-Rest. Ursula Schädler-Saub ist Restauratorin, Kunsthistorikerin und Denkmalpflegerin. Bis September 2021 war sie an der HAWK Professorin des Lehrgebiets „Geschichte und Theorie der Restaurierung, Kunstgeschichte“. Forschungsschwerpunkt: Restaurierungsgeschichte und Restaurierungsethik, mit einem Schwerpunkt auf Wandmalerei. Sie ist der HAWK weiterhin als Senior Researcher durch Forschungsprojekte verbunden und leitet u. a. ein DFG-Projekt. Kontakt: ursula.schaedler-saub@hawk.de